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Was sollen Thesen?

„Thesen" schreibt einer auf, der lange Zeit über etwas gegrübelt und gedacht hat – und der nun mit anderen Menschen darüber diskutieren möchte.
Die Zahl „95" erinnert an Martin Luthers 95 Thesen, mit denen dieser 1517 eine Diskussion über die Zustände in Kirche und Gesellschaft ausgelöst hat.
Ich nenne das Jahr 2017, weil in diesem Jahre die Veröffentlichung seiner Thesen groß begangen werden wird.
Ich selbst, Schreiber dieser neuen Thesen, war 30 Jahre lang Prediger an eben der Kirche, an deren Tür Luthers Thesen einst angebracht worden waren: der Schlosskirche zu Wittenberg. Mein Name ist Hans-Peter Gensichen. Gensichen – das ist eine brandenburgische Pfarrerfamilie schon seit Ende des 16. Jahrhunderts.

Martin Luthers 95 Thesen von 1517 wollten die alte Kirche im 16. Jahrhundert wieder zur Kirche der (damaligen) Gegenwart machen. Luther suchte zu diesem Zweck in den alten biblischen Quellen des christlichen Glaubens nach Impulsen und Korrektiven für die Gegenwart. Aber nicht nur biblische Texte, auch die Theologen der Jahrhunderte direkt  vor 1500 befragte er, transformierte ihre Sätze und baute sie ein in eine (damals) gegenwärtige – für ihn also neue – Theologie. Durch beides, Reformation und Transformation, reinigte, erneuerte er die Kirche und deren Theologie. Und das führte auch zu sozialen Transformationen.

Eine von diesen sozialen Transformationen / Innovationen war die „Erfindung" der Sozialversicherung durch – ja, durch die Theologie: Spenden, Almosen für ganz Arme, oft für Bettler, waren bis dahin „gute Werke" gewesen, über die Gott sich freute und die er den Menschen hoch „anrechnete". Nun aber hatte Luther den Akzent anders gesetzt: Werke, auch gute Werke, helfen wohl den armen Bettlern; aber sie machen den Geldspender nicht akzeptabler für Gott. „Man wird nicht durch Werke gerecht" – auch wenn man dabei noch so viel Gutes tut.

Damit drohte die weitere Verarmung der Ärmsten; denn es entfiel das bisherige Motiv, für sie zu spenden. Da musste nun eine geregelte Armenfürsorge entwickelt werden: Aus dem Verkauf der (nicht mehr benötigten) Klöster und von deren Land wurde ein „Gemeiner Kasten" (gemein = allgemein) geschaffen, dessen Inhalt (Geld) an Arme gegeben wurde. Das war die „Erfindung" der Sozialversicherung. Soziale Transformationen, die aus theologischen Zusammenhängen  abgeleitet werden, spielen darum in diesen 95 Thesen eine große Rolle; z. B. in den Thesen 50 bis 56 (und auch schon 40 bis 49).

Gerade die Thesen 50 bis 56 lehnen sich sehr eng an Luther an. Das Bedingungslose Grundeinkommen für jede und jeden – auch wenn sie oder er gar keine Berufsarbeit ausübt oder ausgeübt hat – ist für mich ganz direkt parallel zur Rechtfertigung des Sünders – ohne dass dieser gute Werke tun muss. Für diesen Gedankenzusammenhang werbe ich ganz besonders. Er ist sehr lutherisch. Muss aber von den Lutheranern erst noch entdeckt werden. Die Entwicklung der Arbeitswelt geht jedenfalls längst in die Richtung „Bedingungsloses Grundeinkommen".

Nicht jede, nicht jeder wird meine Thesen – und die Vorschläge darin  – bejahen können. Wir leben in Gesellschaften, auch in Kirchen oder kirchlichen Gruppierungen, die oft heftig unterschiedlich sind, manchmal geradezu feindlich. Ich habe im Internet andere 95 Thesen aus der Gegenwart gefunden, von denen ich befürchte, dass sie mit kaum einer von meinen Thesen zusammenstimmen. So ist das. Es ist schlimm. Auf diesen Zustand gehe ich in These 71 ein. Ich sage dort, dass Ökumene ein Muss ist. Und Ökumene ist brüderlich und schwesterlich – oder sie ist keine Ökumene. Das bezieht sich auch auf gegensätzliche Thesen und den unterschiedlichen Umgang mit ihnen.
Sinn solcher Thesen ist, dass man sie erstmal hinstellt, dann darüber diskutiert – und schließlich entweder die These beibehält oder sie ändert oder ganz auf sie verzichtet. Thesen sind nur Thesen; sie sind veränderbar – durch einen Disput, der immer auch ein Verstehen einschließt – auch wenn man zunächst mit gegenteiligen Ansichten angereist und gar keine Annäherung für möglich gehalten hatte. Wer aber bei dem „Ja" – „Nein" – „Feind" vom Anfang des Gesprächs stehen bleibt, hat den Charakter von Thesen, den Charme einer möglichen Annäherung im Gespräch, nicht begriffen.

Ich war 30 Jahre lang Prediger an der Schlosskirche in Wittenberg. Luthers Thesen sind mir sehr vor Augen, zumal ich ja lange Zeit Pfarrer an dieser Kirche war. Meine Thesen auf dieser Website knüpfen dort aber nicht so an, dass ich jene sehr alten Sätze vorsichtig ein wenig „verheutige" und auf unsere Situation anwende. So eng bleibe ich nicht am alten Original. Aber Transformationen in der Gesellschaft und eine Reformation der Kirche aus im Geist des Evangeliums will ich schon; sehr.
Formal hat die knappe Form der Haikus und der Senryus mir einen stilistischen Impuls gegeben. Keine von meinen Thesen hat mehr als 24 Silben; meistens sind es 18 oder 19 Silben. Original-japanische Senryus sind noch kürzer. 17 ist dort die kanonische Silbenzahl. Und sie sind schön; sind wirklich Lyrik. Nur zwei Beispiele:

Regen fällt leiser
Suche nach einer Melodie
Es wird wehtun

Ein Meer von Trauer
Zu Schiffbrüchigen werden
Meine Gefühle

Solche Qualität und die Stimmung, die darin liegt, konnte ich gar nicht liefern; sie war aber auch nicht das, was ich im Sinn hatte, als ich die Senryu-Form wählte.
Oft waren die 17 Silben dann doch zu kurz für das, was ich sagen wollte. Manchmal gehören darum zwei zusammen, um eine Aussage zu Ende bringen zu können – das sind dann schon 36 Silben; z. B. bei den Thesen 1 und 2.
Zusätzlich glaubte ich, eine ziemlich große Anzahl von Thesen (wenn auch nicht alle) sofort kommentieren zu sollen. Diese Kommentare stehen immer in der Nähe der elf Thesengruppen. Für manche Leserin / manchen Leser sind die womöglich wichtiger als die These selbst...
Senryu habe ich erstmals 2012 ausprobiert. Damals habe ich ein eBook zum Vaterunser herausgebracht, in dem ich solche japanischen Kurzgedichte verwendet hatte.
hans-peter gensichen: beten ist küssen. neue essais zum alten vaterunser. 2012.
An die Theologie, die ich dort entwickelt habe, habe ich jetzt angeknüpft. Einer der dort eingesetzten Haiku – zur Anrede im Vaterunser – lautet:

Abba. Lieber Gott
Dichteste Nähe bist Du
Beten: Dich küssen

Abgesehen von der Schönheit, die Senryu oder Haiku haben können: sie nötigen den Autor auch zur Konzentration. Man kann nicht „labern“, wenn man sich dieser Form bedient.

Wer mit mir in Kontakt treten möchte . . . noch eine These erklärt haben möchte, meiner Erklärung widersprechen will, oder mir Mut machen . . .

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